Ein neues, scharfes Wort macht die Runde in der politischen Arena Deutschlands: Spionage. Nicht länger sind es die altbekannten Vorwürfe des Rechtsextremismus, die die Schlagzeilen dominieren. Eine neue, weitaus gravierendere Anschuldigung wird erhoben, und sie zielt direkt auf das Herz der Alternative für Deutschland (AfD). Führende Politiker der etablierten Parteien, angeführt von Thüringens SPD-Innenminister Georg Maier und dem CDU-Innenexperten Roderich Henrichmann, werfen der AfD nichts Geringeres vor, als systematisch die kritische Infrastruktur des Landes für Russland auszuspähen.
Es ist eine Eskalation, die das politische Klima weiter anheizt und Fragen aufwirft, die weit über die tägliche politische Auseinandersetzung hinausgehen. Geht es hier um den berechtigten Schutz der nationalen Sicherheit oder erleben wir gerade den verzweifelten Versuch, einen politischen Konkurrenten mit allen Mitteln zu stoppen, der in den Umfragen, besonders im Osten des Landes, unaufhaltsam scheint?
Die Vorwürfe sind detailliert und klingen auf den ersten Blick alarmierend. Innenminister Maier spricht von einer “zunehmenden Sorge”. Die AfD, so der Vorwurf, missbrauche ihr parlamentarisches Fragerecht, um “gezielt unsere kritische Infrastruktur auszuforschen”. Es gehe um sensible Bereiche wie die Verkehrsinfrastruktur, die Wasserversorgung, die digitale Infrastruktur und die Energieversorgung. In Thüringen allein seien in den letzten zwölf Monaten 47 solcher Anfragen registriert worden. Maier geht sogar noch weiter und behauptet, die AfD zeige ein “besonderes Interesse für polizeiliche IT und Ausrüstung, etwa im Bereich der Drohnendetektion und Abwehr”.

Sein CDU-Kollege Henrichmann legt nach und spricht von “krassen Indizien”. Er zieht eine Verbindung zu früheren Anfragen der AfD im Zusammenhang mit dem Fall Nawalny und kommt zu einem vernichtenden Urteil: Er glaube “fest, dass Putin die AfD als willfähriges Werkzeug nutzt”. Die Führung der Partei, so Henrichmann, habe nicht die Kraft, diese “Form des Verrats” zu unterbinden.
Harte Worte, die ein düsteres Bild zeichnen: eine Partei, die als Fünfte Kolonne Moskaus agiert und die Sicherheit Deutschlands untergräbt. Für jeden Bürger, der die Nachrichten verfolgt, ohne die tieferen politischen Zusammenhänge zu kennen, muss dies wie ein klarer Fall von Landesverrat wirken.
Doch bei genauerer Betrachtung offenbart sich ein komplexeres Bild, das von der AfD und ihren Anhängern vehement verteidigt wird. Sie sehen in den Vorwürfen keine legitime Sorge um die Sicherheit, sondern eine neue, perfide Strategie der “Altparteien”. Die Argumentation: Die jahrelangen Versuche, die AfD mit der “Extremismus-Keule” zu treffen, seien abgenutzt. Sie hätten ihre Wirkung verloren, wie der Blick auf die Umfragewerte beweise. Im Osten Deutschlands steht die Partei stabil bei Umfragewerten von bis zu 40 Prozent, bundesweit liegt sie Kopf an Kopf oder sogar vor der Kanzlerpartei SPD.
Aus dieser Perspektive sind die Spionage-Vorwürfe die “nächste Stufe” in einem Abnutzungskrieg. Eine Strategie, die darauf abzielt, die Partei als unpatriotisch und staatsfeindlich zu brandmarken – ein Vorwurf, der in der Bevölkerung potenziell mehr Schaden anrichten kann als der des Extremismus.
Die AfD selbst weist die Anschuldigungen als “Schwurbeleien” und “absoluten Unsinn” zurück. Der innenpolitische Sprecher der AfD im Thüringer Landtag, Ringo Mühlmann, stellt den Kern der parlamentarischen Arbeit in den Mittelpunkt: “Das parlamentarische Fragerecht ist ein Grundpfeiler demokratischer Kontrolle. Es dient der Transparenz, der Aufklärung und der Wahrnehmung von Verantwortung gegenüber den Bürgern.”
Genau hier liegt der Kern der Auseinandersetzung. Was die einen als “Ausforschung” bezeichnen, sehen die anderen als ihre ureigene Pflicht als Opposition. Die AfD argumentiert, dass sie genau deshalb nach dem Zustand der Infrastruktur frage, weil dieser Zustand katastrophal sei. Die Antworten, die die Regierung geben müsse, seien, so Mühlmann, “unbequem”.

Und unbequem sind sie in der Tat. Fragt die AfD nach der Verkehrsinfrastruktur, tut sie dies, weil Tausende Brücken in Deutschland als marode gelten und der Investitionsstau seit Jahren wächst. Fragt sie nach der Wasserversorgung, geschieht dies vor dem Hintergrund von Dürresommern, in denen Kommunen bereits gezwungen waren, den Wasserverbrauch ihrer Bürger zu rationieren. Fragt sie nach der digitalen Infrastruktur, spiegelt dies die Realität eines Landes wider, das beim Glasfaserausbau im internationalen Vergleich hinterherhinkt. Und fragt sie nach der Energieversorgung, dann tun sich die Probleme von steigenden Stromausfallzeiten und einer volatilen Versorgungssicherheit auf.
Aus Sicht der AfD sind ihre Anfragen also kein Spionageakt, sondern das schlichte Benennen der Probleme, die durch die Politik der amtierenden und der vergangenen Regierungen verursacht wurden. Sie hält der Regierung ihr eigenes Versagen vor.
Dieser Konflikt wird durch eine weitere Ebene verschärft, die von Kritikern der Vorwürfe als eklatante Heuchelei bezeichnet wird. Während man der AfD das Stellen von Fragen als Sicherheitsrisiko auslege, so das Gegenargument, würden tatsächliche Angriffe auf die kritische Infrastruktur verharmlost oder ignoriert – sofern sie aus der “richtigen” politischen Ecke kämen.
Es wird auf die zahlreichen Anschläge auf die Infrastruktur der Deutschen Bahn in den letzten Monaten verwiesen. Es wird an den Brandanschlag auf die Stromversorgung des Tesla-Werks in Grünheide erinnert, zu dem sich linksextremistische Gruppen bekannten. Dieser Anschlag legte nicht nur die Produktion lahm, sondern kappte auch die Stromversorgung tausender Haushalte. Die Kritiker fragen: Wo bleibt hier der Aufschrei der Innenminister? Wo sind hier die Ermittlungen wegen “Gefährdung der nationalen Sicherheit”?
Diese Diskrepanz – das laute Anklagen von Fragen auf der einen Seite und das vermeintlich leise Agieren bei tatsächlichen Anschlägen auf der anderen – nährt den Verdacht, dass es hier nicht um die Sache, sondern um den politischen Gegner geht.
Im Zentrum der Verteidigungslinie der AfD steht zudem eine ganz simple und doch entscheidende Frage, die in der öffentlichen Debatte kaum gestellt werde: “Was sind Ihre Beweise?”
Wo sind die Belege dafür, dass die durch die Anfragen gewonnenen Informationen – die in der Regel öffentlich zugänglich oder zumindest parlamentarisch legitimiert sind – tatsächlich an Russland oder eine andere ausländische Macht weitergeleitet wurden? Bisher, so die AfD, bleiben Maier, Henrichmann und andere Kritiker diese Beweise schuldig. Es werde mit “Indizien”, “Gefühlen” und “Überzeugungen” argumentiert, aber nicht mit Fakten.
Diese fehlenden Beweise sind der Nährboden für die Theorie, dass der wahre Grund für die neue Eskalationsstufe die pure Angst vor der Stärke der AfD ist. Die 40 Prozent im Osten seien ein Menetekel für die etablierten Parteien. Die Spionage-Vorwürfe, so der AfD-nahe Tenor, seien nichts anderes als die “letzten Zuckungen eines Systems”, das seine Macht schwinden sieht.

In diesem Kontext wird auch die Debatte um ein mögliches AfD-Verbotsverfahren gesehen. Die Hürden für ein solches Verfahren sind enorm hoch. Die Spionage-Anschuldigung könnte nun als der “Gamechanger” dienen, als der schwere, staatszersetzende Vorwurf, der ein Verbot auch vor dem Bundesverfassungsgericht rechtfertigen könnte.
Die Reaktionen aus der AfD sind entsprechend scharf. Der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke fordert unverblümt den Rücktritt von Innenminister Maier, den er als “politischen Irrläufer” bezeichnet und an Ministerpräsident Voigt (CDU) gerichtet die Frage stellt, wann dieser “endlich entlassen” werde.
Interessanterweise werfen die Kritiker der Regierungslinie auch die Frage auf, warum der Fokus so exklusiv auf der AfD liege, wenn es um Russland-Nähe gehe. Was ist mit anderen Parteien, wie dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das sich offen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Verhandlungen mit Putin ausspricht? Die Tatsache, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werde, bestärke den Verdacht einer rein politisch motivierten Kampagne.
Die Debatte ist eröffnet und sie wird mit einer Härte geführt, die das Land weiter spaltet. Auf der einen Seite stehen die Verteidiger der nationalen Sicherheit, die in den Anfragen der AfD eine reale Gefahr sehen und eine “rote Linie” überschritten wähnen. Auf der anderen Seite stehen jene, die darin einen Angriff auf die demokratischen Grundrechte der Opposition sehen, einen Versuch, unbequeme Wahrheiten über das Staatsversagen zu unterdrücken und einen unliebsamen Konkurrenten auszuschalten.
Was bleibt, ist eine tief verunsicherte Öffentlichkeit. Wem soll man glauben? Dem Innenminister, der vor Verrat warnt, oder der Opposition, die ihr Kontrollrecht einfordert? Die Antwort auf diese Frage wird nicht nur über das Schicksal der AfD entscheiden, sondern auch über die Gesundheit und die Glaubwürdigkeit der deutschen Demokratie selbst.




